Debatte um assistierten Suizid: »Selbstbestimmung ist eine Illusion der Moderne«

Im Februar 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe. Diakoniepräsident Ulrich Lilie stieß daraufhin innerhalb seines Verbands eine heiße Diskussion an: Suizidassistenz in der Diakonie – wie geht das zusammen?

Im Interview mit Pfarrer Matthias Ewelt, Vorstand von Diakonie Erlangen und Stadtmission Nürnberg, und dem Leiter des Erlanger Hospizes am Ohmplatz, Alexander Kulla, wird klar, dass es um viel mehr geht, als die Frage, wer einem sterbenskranken Menschen das tödliche Medikament übergibt. Denn der freie Zugang zu Sterbehilfe würde für alle gelten – auch Junge und Gesunde.

Ist die Selbstbestimmung eines Menschen tatsächlich sein höchstes Gut? Wie können wir verantwortungsvoll mit dem Sterbewillen eines jeden umgehen, wenn wir doch wissen, dass dieser immer auch Momentaufnahme und abhängig von vielen äußeren Umständen ist? Der Theologe Matthias Ewelt und der Krankenpfleger Alexander Kulla haben dazu sehr persönliche, mitunter auseinandergehende Haltungen – beide gehören zur Diakonie.

Das Urteil des Verfassungsgerichtes haben viele als Dammbruch verstanden. Können Sie uns nochmal kurz erklären, was wohl künftig, nach gesetzlicher Neuregelung, in Deutschland möglich sein wird und was nicht?
Kulla: Ich glaube nicht, dass es diesen Dammbruch geben wird. Dass die Zahlen der assistierten Suizide also nicht massiv in die Höhe steigen werden. Für viele ist es einfach eine Option, die sie haben und in Anspruch nehmen könnten. Wenn dann eine gesetzliche Regelung da ist, wird ein assistierter Suizid wohl unter ganz engen Voraussetzungen, die noch geregelt werden müssen, möglich sein. Was es definitiv nicht geben wird ist die Todesspritze, also das Töten auf Verlangen. Also dass jemand jemandem eine Spritze verabreicht, ohne dass dieser selbst die Tatherrschaft hat. Das kann man aber auch kritisch betrachten, wenn man z.B. an Menschen denkt, die gelähmt sind und eine Tablette nicht mehr selbst schlucken können.

Wo hört denn die Assistenz zum Suizid auf und wo genau beginnt Tötung?
Kulla
: Die Assistenz kann damit anfangen, dass beraten wird, dass ein Medikament besorgt wird oder ein Rezept ausgestellt wird. Oder dass das Medikament soweit vorbereitet wird, dass es derjenige nur noch nehmen muss.

Besteht die Aussicht, dass Hausärzte oder jemand in der Familie, künftig beim Suizid helfen?
Kulla: Das ist wohl auch das, was jetzt schon passiert. Bei den assistierten Suiziden im Verborgenen. Und wenn das dann offen und transparent stattfindet, dann ist das, denke ich, der beste Weg. Ich muss aber auch immer dazu sagen, es ist wichtig, dass keiner der Ärzte dazu gezwungen werden kann, so eine Suizidhilfe vorzunehmen.
Ewelt: Was ich wichtig finde, neben dem ganzen Medizinischen, ist die Frage der Begleitung. Dass die Beratung von der tatsächlichen Durchführung getrennt ist, damit man da nicht in einen Automatismus reinkommt oder in eine Selbstverpflichtung: ich muss jetzt auch. Sondern, dass man das entkoppelt und diese Brücke würde mir auch helfen, wenn wir Verantwortung als diakonischer Träger haben: Wir werden nie die sein, die das auch anbieten, also die, die auch die Medikamente dafür im Vorratsschrank haben und dann verteilen. Aber wir werden auch Patienten oder Bewohner, wenn sie bei uns sind, nicht bitten woanders hinzugehen, wenn sie diese Entscheidung für sich treffen.

Was hat das Urteil des Verfassungsgerichtes in Ihnen ganz persönlich ausgelöst?
Ewelt: Ich sehe den Dammbruch in der Grundsatzentscheidung, dass wir in das Thema der Selbstbestimmung reingehen, als ob wir Menschen jeweils nur alleine unterwegs sind. Es wird immer mehr auf individuelle Entscheidungsfreiheit gesetzt. Dass so getan wird, als sei jeder jederzeit Herr seiner Lage. Wir hatten nie das Recht zu entscheiden, ob wir geboren werden und als glaubender Mensch sage ich, ich kann nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass ich das Recht habe, mein Leben einfach jederzeit zu beenden, weil es ein Geschenk ist, mit dem ich umgehe.

Das heißt, Sie sehen das Credo und Plädoyer zur Selbstbestimmung eher kritisch, um das auch hier gestritten wird?
Ewelt: Es ist nicht so, dass ein Leben beendet wird und damit ist alles gut, sondern dass wir sozial das Ganze angucken müssen: Es ist letztlich nur ein Tausch - einer beendet seine Krise und schafft eine neue Krise für andere. Deswegen ist es zu wenig, nur auf das Individuum an der Stelle zu gucken.
Kulla: Natürlich ist es so, dass wir in einem sozialen Umfeld leben, Familie und Freunde haben. Ich stelle fest, dass immer mehr Leute alleine sind, die keine Angehörigen haben, die isoliert sind und das wird leider zunehmend ein Problem. Von daher lasse ich das Argument der Hinterbliebenen nicht immer gelten.

Sie sehen es, Herr Ewelt, also auch als Teil der Verantwortung eines Menschen, der sein Leben beenden möchte, Verantwortung für sein Umfeld zu tragen, das er hinterlässt und welches Leid und welche Tragödie er auslöst?
Ewelt: Wenn wir soziale Menschen sind, müssen wir auch einsehen, dass all unser Tun Folgen für andere hat. Das ist grundsätzlich im Menschsein drin, als soziales Wesen habe ich immer die Pflicht, darüber nachzudenken, was mein Handeln bei anderen auslöst.
Kulla: Das macht das Sterben insgesamt wirklich schwierig. Wir haben immer mit im Kopf: Wie geht es unseren Angehörigen, unseren Freunden, unserem Arbeitgeber? Was passiert, wenn ich als Hauptverdiener ausfalle? Wie kommen die über die Runden? Menschen im Hospiz tun sich sehr schwer zu gehen, wenn noch offene Baustellen sind.

Was sind Ihrer Erfahrung nach Beweggründe, die dazu führen, dass jemand nicht mehr leben möchte?
Ewelt: Grundsätzliche Lebensängste, wirtschaftlich, z.B., wenn man den Arbeitsplatz verloren hat, bei Männern. Sind ja überwiegend Männer, die sich suizidieren, die dann nicht mehr für die Familie sorgen können. Allerdings ist ja auch ein ganz großer Anteil bei denen, die vermeintlich Gründe haben für einen Selbstmord, in psychischen Erkrankungen, also Depressionen und so was, zu suchen. Und das macht es auch so schwierig, bei der Frage, ist es eine abgeklärte Entscheidung, weil diese natürlich überlagert wird. Die Vorstellung also, dass jemand ganz bei sich, ganz gesund, ganz klar und reflektiert eine Entscheidung über den eigenen Tod trifft, und sagt: »Ich möchte euch das alles mitteilen, lasst uns gemeinsam einen guten Weg finden.« Das ist eine rein theoretische Vorstellung, wie wir es gerne hätten. Die funktioniert in der Realität sehr selten. Auch der Tod im Hospiz ist ein Sonderfall.
Kulla: Häufig sind es schwere Erkrankungen und der unsichere Verlauf, wie es weitergeht. Die Unkenntnis darüber, wie Sterben funktioniert. Angst vor der Ungewissheit, Angst vor Schmerzen, Angst vor Symptomen, Atemnot, Angst vor der Pflegebedürftigkeit, das Ausgeliefertsein und Hilflos-Sein. Das ist, was bei vielen für Panik sorgt und in einem Suizidwunsch mündet bei vielen. Es gibt keine legitimen und illegitimen Gründe. Es gibt nur individuelle Empfindungen dazu.
Ewelt: Ich würde sogar davor warnen, diese zu bewerten. Denn in dem Moment, wo wir bewerten, was legitim ist als Sterbegrund, zum Beispiel eine kommende Demenz. In dem Moment entsteht ein Druck auf alle, die diese Diagnose kriegen.

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann jeder – nicht nur ein Todkranker – die Unterstützung von Sterbehilfevereinen in Anspruch nehmen. Welche Voraussetzungen sehen Sie als unumgänglich, bevor einem Menschen tatsächlich bei der Beendigung seines Lebens geholfen werden darf?
Ewelt: Es muss immer unter der Überschrift »Ultima Ratio« laufen. Und es muss herausgearbeitet werden, dass dieser Mensch zu dieser Entscheidung aus nachvollziehbaren Gründen gekommen ist. Dass das nicht z.B. durch eine Depression oder so überlagert ist, die man medikamentös behandeln kann. Dann sind bisher auch Kinder nicht ausgenommen. Das heißt Eltern könnten entscheiden, ob ein Kind sich das Leben nimmt – das halte ich für enorm schwierig.
Kulla: Für mich ist wichtig, dass für die Gespräche mit demjenigen, der sich töten möchte, ganz viel Zeit da ist. Und dass neutral beraten wird über die Optionen, und zwar über alle. Es reicht, wenn jemand klar bei Verstand ist, wenn man ihm die Optionen ausführlich aufzeigt. Wir dürfen ihn auch nicht in eine Richtung drängen, damit er von seinem Anliegen Abstand nimmt.
Können Sie sich vorstellen, Sterbehilfe auch in den Einrichtungen von Diakonie Erlangen und Stadtmission Nürnberg zuzulassen?
Ewelt: Ich könnte mir konkret vorstellen, dass es in unseren Häusern erlaubt ist und jemand von außen dazu kommt, wir es aber nicht selbst anbieten.
Zu glauben, dass es Mitwirkung bzw. Unterstützung beim Sterben nicht auch bisher schon gegeben hätte, wäre eine Illusion. Auch bisher haben Ärzte z.B. entschieden, dieses Medikament geben wir nicht mehr, hier machen wir das Sterben möglich. Oder zu sagen, es wird nicht weiter künstlich ernährt usw. Die Grenze wird da aus meiner Sicht jetzt ein Stück weit verschoben.

Müsste es in Pflegeheimen eine bestimmte Ansprechperson geben, die ein offenes Ohr für Sterbewünsche hat?
Ewelt: Ja, das ist denke ich so.
Kulla: Es gibt tatsächlich Studien, die belegen, dass wenn man jemanden aktiv anspricht, und ihn fragt, ob er noch Freude am Leben hat, dann häufig dazu führt, dass der Suizidwunsch durch das Sprechen nicht mehr besteht, dass andere Lösungen gefunden werden. Das Reden ist also grundsätzlich der Türöffner. Und das können Laien genauso gut wie Profis.

Das Sterben frühzeitig durch Dritte zu ermöglichen ist das eine. Haben wir andererseits überhaupt schon alles erreicht, damit jeder Mensch garantiert gut, d.h. natürlich ohne Angst sterben kann?

Kulla: Einer meiner größten Kritikpunkte ist, dass wir noch viel zu weit auseinanderliegen mit Palliativmedizin auf der einen Seite und universitäre Medizin auf der anderen Seite. Es ist ganz wichtig, dass die Palliativmedizin viel früher in diese Behandlungsprozesse mit reinkommt, quasi schon ab Diagnosestellung mit im Boot sitzt und Alternativen aufzeigt. Und dann sehe ich tatsächlich auch einen großen Mangel in der Pflege, was Personalausstattung angeht. Da sind wir an einem schwierigen Punkt. Um eine gute Sterbebegleitung zu machen, Menschen am Lebensende in Würde zu begleiten. Dafür braucht es vor allem Zeit und personelle Ressourcen.

Was ist eine gute Palliativmedizin und Hospizarbeit im Stande zu leisten?
Ewelt: Da würde ich gern aus eigener Erfahrung antworten: Es ist eine Illusion zu glauben, dass man nur mit Medikamenten voll bewusstes, voll schmerzfreies Leben und Sterben hinbekommen kann. Es ist immer relativ. Es kommt dann auch auf meine Resilienz an.
Kulla: Alle Maßnahmen zur Linderung von Leid und Symptome brauchen immer eine Indikation. Eine gezielte Sedierung zum Beispiel, darf man nicht mal so nebenbei machen. Denn das wäre letztendlich nichts Anderes als Tötung auf Verlangen, dann eben auf längere Sicht. Es gibt generell ein breites Spektrum. Ich kann jemanden z.B. nur für einen Tag sedieren, also Schlafen legen und dann wieder aufwachen lassen und schauen, wie es ihm geht. Das kann dazu führen, dass derjenige die nächsten Tage symptom- und angstfrei übersteht. Und es gibt die Sedierungen, die so tief sind, dass derjenige dann in der Sedierung schlussendlich verstirbt. Generell können wir Schmerzen und Symptome wie Atemnot usw. auf ein erträgliches Niveau bringen. Es ist aber immer ein Abwägen der Wirkungen und Nebenwirkungen.

Gibt es eine besondere Rolle der Diakonie in der Sterbedebatte?
Ewelt: In dem Moment, wo Menschen den Eindruck kriegen, es ist im Prinzip egal, ob Leben oder Tod, ich kann also jeden Tag entscheiden, ob ich leben oder sterben möchte, wird es schief. Da ist unser Auftrag als Kirche und Diakonie: Nein, wir sprechen für das Leben. Wir wollen Hilfe zum Leben geben, nicht zum Sterben.

Selbstbestimmung – das ist ja das wesentliche Argument, das für ein Zulassen der Hilfe zur Selbsttötung spricht. Was halten Sie davon? 
Ewelt: Philosophisch und theologisch betrachtet ist Selbstbestimmung eine Illusion. Das ist eine Erscheinung der Industriegesellschaft und der Moderne. Alles wird durch Rahmenbedingung, wo ich lebe, politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich usw. bestimmt. Fremdbestimmung ist die Normalität. Selbstbestimmung ist die Freiheit nein sagen zu können, in einem bestimmen Rahmen, in dem ich mich bewege.

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft in dem der Mensch nur etwas wert scheint, wenn er etwas beiträgt. Vielen Menschen geht‘s ja schon bei Kleinigkeiten so: Sie wollen niemandem zur Last fallen, egal, ob‘s um Geld oder um Zeit geht. Sie wollen kein Jammerlappen sein oder auf jemanden angewiesen. Wie müssen wir das berücksichtigen?
Ewelt: In dem Moment, wo Menschen nicht in Armut fallen müssen, weil sie zumindest Job und einkommenstechnisch nichts mehr beitragen können, krank sind usw. In dem Moment wo sie da abgesichert sind, entstehen diese Dilemmata nicht. Und das moralisch-ethische Thema, das Sie da ansprechen, da ist das offene Gespräch entscheidend. Immer da, wo Dinge nicht angesprochen sind und unausgesprochene Erwartungen bestehen, wird es problematisch. Da bemühen wir uns in der Seelsorge, in Beratungsstellen darum.

Besonders Demenz ist ja diskussionsbedürftig, was die Selbstbestimmung angeht. Erkrankte müssten Sterbehilfe in Anspruch nehmen, zu einem Zeitpunkt, an dem die Situation eigentlich noch gut ist, damit man von einer selbstbestimmten Entscheidung sprechen kann. Was denken Sie dazu?
Kulla: Da sollte die Debatte eine andere sein. Nämlich den Signalen eines dementen Menschen Achtsamkeit und Respekt zu schenken. Wenn sie z.B. nicht mehr den Mund aufmachen, um zu essen, dann sind das auch Willensbekundungen, die z.B. in Richtung Sterben verweisen. Das ist denke ich der richtige Weg, sensibel mit dem Sterben und Willen dementer Menschen umzugehen.

 

Vollständiges Interview zum Nachhören unter Diakonie und assistierter Suizid - YouTube

 

Die Fragen stellten Anna Thiel und Tabea Bozada.

Hilfe im Leben – Diakonie Erlangen